Ein „amönes” Quartier

Humoreske von Ralph von Rawitz.
in: „Ostrauer Zeitung” vom 03.03.1909
in: „Deutsches Volksblatt” vom 28.03.1909


Als die Schwadron der blauen Husaren um eine Waldecke bog, eröffnete sich den Reitern ein weiter, schöner Blick in das Tal, in dessen Mitte stolz aus einem prächtigen Park die Türme von Schloß Rotenfeld emporragten. Dieser Anblick wirkte belebend auf die Truppe, die bisher schweigend in der glühenden Mittagssonne ihres Weges gezogen war. Die Leute setzten sich gerade in den Sattel, die Musik nahm die Trompeten auf, die Gäule, Wasser witternd, schritten schneller, und dann erscholl es: „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!”

Vorn, an der Spitze der Eskadron, ritten die Offiziere, derem Blicke nicht weniger sehnsüchtig nach Rotenfelds Mauern herüberschweiften, als die Augen der Mannschaften.

„Scheint ein nettes Quartierchen zu werden,” sagte Baron Schilding, der älteste Leutnant, ein auffallend hübscher junger Mann, „von weitem sieht das Gut sehr amön aus. Hoffentlich liegen wir allein dort.”

„Ja und Nein!” antwortete der Eskadronschef, Rittmeister von Holz. „Ja — insofern Rotenfeld in der Tat ein glänzendes Quartier ist; ich habe in früheren Jahren dort schon einmal gelegen. Es gehört einem Grafen Bergewitz. Nein — insofern wir nicht allein dort liegen. Auch der Divisionsstab und ein Teil des Leib-Füsilier-Regiments ist dort einquartiert. Die Belegung wird somit etwas eng werden.”

„Eine Pulle Sekt wird aber doch wohl pro Nase entfallen,” lachte Schilding. „Sind auch Damen da?”

„Ich glaube einige Töchter! Dazumal waren sie, wenn ich mich recht entsinne, noch in einer Pension an der Riviera.”

„Aha! Na, das finde ich auch amön! Sehr amön! Gutspark ohne Komtessen ist fast so wie Armband ohne Brillanten, Rehrücken ohne Champignons, Armeekorps ohne Blaue Husaren; einfach unerträglich!”

Bald darauf war Dorf unb Gut Rotenfeld erreicht; die Mannschaften wurden sehr gut bei den wohlhabenden Bauern des Ortes, die Offiziere auf dem Gutshof einquartiert. Graf Bergewitz in eigener Person empfing seine Gäste und teilte ihnen die Zimmer zu.

„Mein Haus sieht zwar ziemlich groß aus,” sagte er, „ist aber in Wirklichkeit nicht so weitläufig. Sämtliche Raunte im Erdgeschoß dienen der Geselligkeit, sind also Salons, Speisezimmer, Bibliothek, Billardgemach usw. Im ersten Stock liegen unsere Wohn- und Schlafzimmer. So blieb für unsere Gäste nur der zweite Stock. Einzelne Zimmer kann ich leider nur den Herren Stabsoffizieren und Hauptleuten geben, die Herren Leutnants müssen schon ein Massenquartier beziehen. Denn es sind ihrer zehn hier, drei von Ihnen, zwei von der Artillerie und fünf von den Leib-Füsilieren. Ich habe den Herren einen großen Saal reserviert und spanische Rollwände zwischen den Betten aufstellen lassen. Hoffentlich ist es ein wenig erträglich!”

Etwas ärgerlich darüber, daß er mit der gemeinen „Bombe” und dem gewöhnlichen „Fußvolk” in einen Topf geworfen war, suchte Baron Schilding den Saal auf. Die Unterbringung war aber nicht so schlecht, als er vermutet hatte. Die Betten waren auf beiden Seiten des sehr geräumigen und gewölbten Saales verteilt und mit dem nötigen Komfort versehen. Ueberdies stellte sich heraus, daß die anderen Herren liebenswürdige Leute waren, mit denen man sich schnell einigen konnte. Schilding wählte ein Bett gerade in der Mitte, das noch frei war, warf sich dann in die bessere Garnitur und ging zum Dejeuner hinunter.

Das war nun in der Tat eine für ländliche Verhältnisse große Gesellschaft, in die er trat, etwa achtzehn Herren und zehn oder zwölf junge Damen. Graf Bergewitz hatte auf Bitten seiner beiden Töchter die Töchter der benachbarten Güter eingeladen, denn eine solche Gelegenheit zum Tanzen fand sich nicht so leicht wieder, zumal die Kapelle der blauen Husaren zur Stelle war.

So fand denn am Abend dieses Tages ein solenner Ball statt, nachdem ein opulentes Diner vorausgegangen war. Baron Schilding schwamm in Seeligkeit: Das war sein Element, den liebenswürdigen Schwerenöter spielen, Vielliebchen essen, Lanziers kommandieren und — wie er wenigstens behauptete — „Herzen knacken”. Erst in vorgerückter Stunde — man konnte sich diesen Luxus leisten, weil die Truppen morgen kein Manöver, sondern Ruhetag hatten, — endete die schöne Festlichkeit. Die Herren suchten ihre Zimmer auf, und die Damen taten desgleichen, denn sie waren, um nicht in tiefer Nacht auf schlechten Landwegen nach Hause fahren zu müssen, ebenfalls im Schloß untergebracht worden.

Als der letzte Galoppwalzer verklungen war und alles auseinanderstob, ging Baron Schilding in den nächtlichen Park, um sich etwas abzukühlen und eine Zigarre zu rauchen. Erst nach längerer Zeit, als die Lichter verloschen waren und alles schon ruhte, stieg er seufzend die Treppen hinauf zu der „urgemeinen, ganz unamönen Massenbude”. Hier hatte er sich schon beinahe gänzlich entkleidet, als ihm einfiel, daß er sein Notizbuch, das wichtige Manöverbemerkungen enthielt, im Rauchzimmer habe liegen lassen. Zuerst schwankte er, bann aber entschloß er sich, noch einmal hinunterzugehen. Nur mit Unterkleidern angetan, sprang er schnell die Treppen hinab, fand in dem dunklen Zimmer auch bald den vermißten Gegenstand und ging durch die stillen, menschenleeren Gänge wieder zurück. Alles schlief schon seit einer Stunde; tiefer Friede und draußen nur das Rauschen des Nachtwindes in den Bäumen des Parkes. — Alles schlief? Doch nicht! Ein leichter Tritt nahte vom entgegengesetzten Ende des langen Korridors, der mit einigen Biegungen durch das ganze Obergeschoß des Hauses sich hinzieht.

„Donnerwetter, das ist scheußlich!” murmelte Schildimg, und mit heftigen Sätzen sprang er hinter die nächste Ecke, um zu horchen. Tipp-tapp-tipp-tapp. — Der Schritt kam näher. Wie von Furien gejagt, flüchtete der mangelhaft uniformierte Husar zum nächsten Absatz. Tipp-tapp-tipp-tapp und dazu etwas, wie das Rauschen von Frauengewändern. „Großer Himmel, hilf in meiner Not,” stöhnte der Baron, „jetzt nützt mir nichts mehr, ich muß in die nächste Tür hinein, sei es, welche es wolle!”

Entschlossen drückte er die nächste Pforte auf und trat in ein dunkles Gemach. Das tiefe, rasselnde Schnarchen, welches aus einer Ecke tönte, belehrte den geängstigten Leutnant, daß irgend ein alter Herr hier sanft schlummerte. Draußen auf dem Korridor kam der Schritt näher, ging vorüber, erklang in der Ferne.

Schilding wartete eine Minute und schlich dann leise aus dem Zimmer.

„Heiliges Kanonenrohr!” sagte er, als er wieder auf dem Gange sich befand, „war das eine Angst!! Aber nun auch im Galopp in die Falle. Wo geht es entlang? Links? Nein, rechts! Nein, doch links! Mir wirbelt noch der Kopf von dem Schrecken! Und totmüde bin ich!”

Er schritt den Korridor zu Ende und trat in den großen, dunklen Saal. „Nun heißt es zählen: das dritte Bett rechts! Also Bett Nr. 1 — hier Bett Nr. 2 — da schläft mein Kamerad Löwenthin — dem Bengel muß ich den kleinen Zeh kneifen — knipps! — da haste was, Jungchen! — rührt sich nicht, schläft wie ein Murmeltier — nun Bett Nr. 3 — Schlagschwerebrett, ich hab mich wohl verzählt, da ist ja jemand drin — sonderbar — also eins weiter — na ja — das ist leer, das ist meines — ’rin in die Falle! Gute Nacht, Welt, jetzt habe ich nur einen Wunsch: Schlafen!”

Fünf Minuten später schlummerte er tief und fest; bis die helle Morgensonne ihm in das Gesicht lachte, hielt ihn der gesunde Jugendschlaf befangen. Dann aber fuhr er auf und sah um sich:

„Die Kerls schlafen noch alle! — Was ist denn mit dem Saal vorgegangen? — Sie haben ja die Rollwände weggenommen! Und sind ja auch nur acht Betten! Merkwürdig! Na, nun werde ich den faulen Fußfantristen und den Bombenschmeißern mal einen Schrecken einjagen! Paßt mal auf, Kerls!” Und dann mit dröhnender Stentorstimme: „Aufsteh'n! An die Gewehre! Batterie uffjesessen!”

Ein sechsfacher Schrei, hoch, schrill, entsetzlich — war die Antwort. Sechs braune und blonde Köpfchen tauchten auf, um sofort unter Kissen und Decken wieder zu verschwinden: Baron Schilding lag in — dem Jungen-Damen-Saal! —

Schöne, liebenswürdige Leserin, empörter, sittenstrenger Leser! Du begreifst, welche Schwierigkeiten es macht, den armseligen Husar, der seinerseits auch blaß und bleich in seinem Bett verschwunden war, in die Freiheit zu befördern! Denn niemand wollte aufstehen! Niemand wagte sich zu rühren. Erst gegen Mittag unter einem Aufgebot von drei Dienstmädchen, welche das Kostüm Schildings herbeibrachten und dann eine Gasse von Bettschirmen errichteten, gelang es, eine allseitig befriedigende Lösung zu finden.

O Schilding, Schilding! Du wirst Schloß Rotenfeld niemals vergessen! Dies Quartier war wirklich nicht „a m ö n”!

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